11. JUNI 2023

Gedanken zum 1. Sonntag nach Trinitatis

„Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte … hätte aber die Liebe nicht, / nützte es mir nichts.“ (aus 1 Kor 13,3)

 

Es gibt nichts wichtigeres als die Liebe. Sie ist wichtiger als alles Hab und Gut der Welt, ja sogar als der Glaube. Das ist, kurz zusammengefasst, die Botschaft des 13. Kapitels im Korintherbrief.

 

Ein Beispiel dafür habe ich neulich in der Bahnhofsmission Hameln erlebt. Bei der Feier des 65. Jubiläums begegnete ich dort einem jungen Ehrenamtlichen, der mich beeindruckt hat. „Warum arbeiten Sie in der Bahnhofsmission?,“ fragte ich ihn. Seine Antwort: „In der Bahnhofsmission habe ich zum ersten Mal erlebt, dass ich so sein kann, wie ich bin, und dafür Anerkennung bekomme. Das hat mein Leben verändert. Deshalb bin ich immer noch hier.“

 

Was ist geschehen? Der junge Mann war für ein Freiwilliges Soziales Jahr in die Bahnhofsmission gekommen. Zuvor hatte er die Schule abgebrochen. Sein ganzes Leben lang hatte er das Gefühl, ein bisschen „anders“ zu sein. Vieles von dem, was er tat oder empfand, schien irgendwie „nicht zu passen“. Inzwischen hat er eine Diagnose. Er ist Autist. Deshalb nimmt er seine Umwelt anders wahr als andere und kommuniziert auf eine Weise, die manchmal irritiert. Das erklärt, dass in seinem Leben manches „schief“ ging. Oft fühlte er sich als nicht zugehörig und eckte an.

 

Ich habe keine Ahnung, wie seine Kolleginnen und Kollegen in der Bahnhofsmission es geschafft haben, ihm zu signalisieren: „Du bist o.k.“. Und: „Wir brauchen Dich. Toll, dass Du da bist!“ Offensichtlich haben sie aber genau das getan. Das zu erleben, muss für den jungen Mann eine entscheidende Erfahrung gewesen sein, die zu einer Wende führte. Er konnte ganz neu anfangen. Denn er entdeckte, was er alles kann. Er erlebte, dass es Spaß macht, seine Begabungen einzusetzen. Und dass andere Menschen etwas davon haben. Das gab ihm Selbstbewusstsein und Energie. Inzwischen bereitet er sich auf eine Berufsausbildung vor. Nebenbei arbeitet er weiter ehrenamtlich in der Bahnhofsmission.

 

Der junge Mann hat in der Bahnhofsmission Hameln Menschen getroffen, die ihn so sehen, wie er sich selbst lange Zeit nicht sehen konnte. Ich denke, er spürt einen annehmenden, liebevollen Blick. So gesehen zu werden ist wertvoller als jede materielle oder finanzielle Hilfe oder noch so professionelle Beratung. Nachhaltiger als mit Annahme, Wertschätzung und Liebe kann unsere Hilfe nicht sein.

 

Gisela Sauter-Ackermann

Gisela Sauter-Ackermann

Bundesgeschäftsführung Bahnhofsmission