17. SEPTEMBER 2010

17. September 2010

"So etwas habe ich noch nie erlebt."

DUISBURG. Die 25 Mitarbeitenden der Duisburger Bahnhofsmission hatten sich zwar auf einen anstrengenden Einsatz vorbereitet. Aber was dann passiert, als die fröhliche Loveparade in einer schrecklichen Massenpanik endet, das werden die engagierten Frauen und Männer wohl nie mehr vergessen. „So etwas habe ich Mehr... noch nie erlebt“, sagt sogar Bodo Gräßer, der die Bahnhofsmission Duisburg gemeinsam mit Torsten Ohletz leitet, und sich bereits seit 24 Jahren dort engagiert. 

 

Am Morgen und Mittag des 24. Julis blicken die Mitarbeitenden noch in viele fröhliche und erwartungsvolle Gesichter von jungen Leuten, aber auch ganzen Familien, die bei der Loveparade eine ausgelassen Open-Air-Party bis in den Sonntagmorgen feiern wollen. Die hundertausenden Besucher reisen aus ganz Deutschland und sogar aus dem Ausland an, und die meisten von ihnen kommen am Hauptbahnhof an. Von dort werden sie auf das naheliegende Gelände geleitet. Doch bereits gegen 16 Uhr ändert sich das Bild. Die ersten kommen zurück, frustriert, dass das Leitsystem nicht mehr funktioniert und sie keine Chance haben, auf das Festivalgelände zu kommen. Immer mehr Menschen drängen zum Bahnhof zurück, die Stimmung kippt komplett, Chaos bricht aus.

 

Aus dem Internet erfahren die Haupt- und Ehrenamtlichen der Bahnhofsmission dann von dem Unglück. Von vielen Toten und Verletzten ist die Rede, Opfer einer Massenpanik. Die Mitarbeitenden sind von da an im Kriseneinsatz. Sie kümmern sich um verzweifelte und traumatisierte Menschen, versorgen gestrandete Reisende mit Getränken und Essen oder versuchen trotz zusammengebrochener Telefonnetze Angehörige und Freunde zu erreichen. „Ein junger Mann war nur mit einer Hose und einem Schuh bekleidet und mit einem verbundenen Fuß unterwegs“, erzählt Gräßer. „Wir konnten ihn mit Kleidung versorgen.“ Andere junge Menschen rennen, noch unter Schock stehend, zu den Gleisen und schreien: „Ich will hier raus!“ Für viele gibt es in der Nacht kein Weiterkommen. Der gesamte Bahnhof ist voll mit Gestrandeten, die dort übernachten müssen.

 

Sorge um die eigenen Kinder
Mittendrin die Männer und Frauen der Bahnhofsmission, die nicht nur bis zur Erschöpfung den Menschen helfen. Darüber hinaus sind zwei von ihnen voller Sorge, denn auch ihre Kinder sind unter den Loveparade-Besuchern. Sie können sie telefonisch nicht erreichen und erfahren erst später, dass ihnen nichts passiert ist. Zwei andere werden beim Versuch, verängstigten älteren Damen zu helfen, selber hilflos von einer Menge mitgerissen. Und mehr als einmal sehen sich die Mitarbeitenden aggressiven Bedrohungen durch Partygäste ausgesetzt, so dass Sicherheitskräfte eingreifen müssen.

 

Die ganze folgende Woche hält die Loveparade-Katastrophe die Bahnhofsmitarbeitenden weiter in Atem. Viele Menschen fragen auch am nächsten Tag noch nach Vermissten. Eine Frau bekommt die Nachricht, dass ihre Nichte unter den Verstorbenen ist und die Bahnhofsmission findet für sie einen Notfallseelsorger. Trauernde fragen nach dem Weg zum Tunnel, hinter dem das Unglück passiert ist. Andere wollen einfach  nur reden.

 

Über sich selbst hinausgewachsen
„Nach einer Woche haben wir uns dann viel Zeit für Mitarbeitergespräche genommen“, sagt Gräßer. „Wir haben zusammengesessen und erzählt. Gerade die jungen Mitarbeitenden waren sehr mitgenommen. Einige machten sich Vorwürfe, dass sie die Besucher ja quasi in den Tod geschickt hätten“, erzählt der 45-Jährige betroffen. Gemeinsam haben alle dann den Unglücksort besucht, um dort, wie viele hundert andere Menschen auch, Kerzen anzuzünden und Blumen niederzulegen. „Nach einem Monat ist langsam wieder der Alltag eingekehrt“, so Gräßer, der auch eine positive Auswirkung sehen kann: „Wir haben gemerkt, dass viele Mitarbeitenden an diesem Tag über sich selbst hinausgewachsen sind und dass sich im Team ein noch größerer Zusammenhalt entwickelt hat.“

 

Gut getan hat den Mitarbeitenden auch die positive Resonanz, die sie von allen Seiten für ihre Arbeit erhalten haben. Mails und Briefe kamen von dankbaren Menschen, massive Unterstützung erhielten sie von den Trägern Diakonie und Caritas und sogar die Ministerpräsidentin des Landes NRW, Hannelore Kraft, zollte in einer Rede ihre Anerkennung. Im Vorfeld gab es bereits Unterstützung von den Bahnhofsmissionen in Dortmund und Essen, die schon eine Loveparade in ihrer Stadt bewältigt hatten. Nicht zu vergessen die anderen Bahnhofsmissionen in der Region, die an diesem Tag ebenfalls einen Ausnahmezustand erlebten. Besonders positiv, so Gräßer, sei rund um die Loveparade auch die hervorragende Zusammenarbeit mit der Deutschen Bahn und der Bundespolizei gewesen.

 

An einem Tag so viele Kontakte wie sonst im ganzen Monat
Das Ausmaß des Einsatzes lässt sich gut an einer Zahl ablesen. Am Tag der Loveparade haben die Bahnhofsmissionsmitarbeitenden mehr als 2.000 Menschen geholfen – so vielen, wie sonst in einem ganzen Monat. Bemerkenswert daran sind die vielen Kontakte, die die Bahnhofsmission an diesem Tag zu Jugendlichen hatte. Viele von ihnen erfuhren zum ersten Mal von der breiten Palette der Hilfeangebote und werden die Einrichtung vielleicht in guter Erinnerung behalten.

 

 

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