02. APRIL 2020

CORONA-Krise – Auswirkungen auf Menschen in Wohnungslosigkeit und Wohnungsnot

Die Dienste und Einrichtungen der Hilfen im Wohnungsnotfall sind in großer Sorge um die Menschen in Wohnungslosigkeit und Wohnungsnot, um die Mitarbeitenden der Hilfeangebote und zuweilen auch um die Existenz der Einrichtungen.Die BAG Wohnungslosenhilfe e. V. (BAG W) fordert ein 10-Punkte-SofortprogrammMehr...

 

  • Die Belegungsdichte in ordnungsrechtlicher Unterbringung der Kommunen und sonstigen Notunterkünften muss umgehend reduziert werden. Dazu müssen zusätzliche Räumlichkeiten von den Kommunen akquiriert und angemietet werden: leerstehender Wohnraum, Pensions- und Hotelzimmer, Ferienwohnungen und weitere geeignete Immobilien.
  • Um Quarantänemaßnahmen für wohnungslose Menschen sicherzustellen, müssen von den Kommunen abgeschlossene Wohneinheiten in ausreichender Zahl vorgehalten werden. Stationäre Angebote der Wohnungsnotfallhilfe richten nach ihren Möglichkeiten abgetrennte Einheiten zur Quarantäne ein und sollten dafür auch die nötige Unterstützung durch die Leistungsträger zugesichert bekommen.
  • Die basale Versorgung der Menschen, die ganz ohne Unterkunft auf der Straße leben, mit Aufenthaltsmöglichkeiten während des Tages, Mahlzeiten, Kleidung, sanitären Anlagen, Händehygiene etc. muss abgesichert sein. Dazu beitragen kann die 24 / 7-Öffnung von ordnungsrechtlichen Unterkünften, d.h. die Menschen sollten auch tagsüber in Unterkünften verbleiben können, damit sie sich nicht im öffentlichen Raum aufhalten müssen. Dazu müssen (siehe Punkt 1.) ggf. von den Kommunen zusätzliche geeignete Räumlichkeiten akquiriert werden.
  • Die medizinische Versorgung der wohnungslosen Patientinnen und Patienten muss gewährleistet werden. Eine Mindestvoraussetzung ist die Ausstattung der medizinischen Projekte der Wohnungslosenhilfe mit allen benötigten Schutzutensilien.
  • Den wohnungslosen Menschen in ordnungsrechtlichen Unterkünften der Kommunen, in stationären Einrichtungen und anderen Unterkunftsangeboten freier Träger der Wohnungsnotfallhilfe sowie den Mitarbeitenden dieser Dienste und Einrichtungen müssen regelmäßige COVID-19-Testungen ermöglicht werden, um die Infektionsgefahr in diesen Gemeinschaftseinrichtungen einzudämmen.
  • Für besonders vulnerable Gruppen von wohnungslosen Menschen müssen abgeschlossene Wohneinheiten vorgehalten werden, um sie besser schützen zu können. Dazu gehören u. a. Alleinerziehende und Familien, psychisch oder somatisch schwer beeinträchtigte Menschen, von Gewalt bedrohte oder betroffene wohnungslose Frauen.
  • Junge Menschen in Jugendhilfeeinrichtungen sollten jetzt keinesfalls mit dem Erreichen der Volljährigkeit diese Einrichtungen verlassen müssen.
  • Es bedarf gesetzlicher Regelungen zur Aussetzung von Zwangsräumungen aus Wohnraum: Schon lange vor der CORONA-Krise sind Räumungsverfahren eingeleitet worden, die jetzt unbedingt und verbindlich ausgesetzt werden müssen. Vollstreckungsschutzanträgen gemäß § 765a der Zivilprozessordnung (ZPO) muss stattgegeben werden, denn das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art.2 Abs.2 Satz 1 des Grundgesetzes muss geschützt werden. Die Justizbehörden der Länder sollten mit den Amtsgerichten vereinbaren, Zwangsräumungen auszusetzen.
  • Es bedarf eines unbürokratischen und niedrigschwelligen Zugangs zum Bezug von Leistungen der Jobcenter und der Agentur für Arbeit. Tagessätze sind durch monatliche Zahlweisen zu ersetzen.
  • In die Erlasse der Länder und Kommunen zur Bestimmung kritischer Infrastrukturen müssen die Dienste und Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe aufgenommen werden. Die Träger und Einrichtungen der Hilfen im Wohnungsnotfall müssen bei Bedarf kurzfristig und unbürokratisch zusätzliche Mittel von Kommunen, den Bundesländern und dem Bund zur Verfügung stehen, um den Herausforderungen gewachsen zu sein.

 

Zum Hintergrund

Die bedrohliche Lage wohnungsloser Menschen

Die CORONA-Krise bedeutet für wohnungslose Menschen eine dramatische Verschlechterung ihrer ohnehin bereits prekären Lebenslage.

In ordnungsrechtlicher Unterbringung und in Notübernachtungen sind wohnungslose Menschen nach wie vor in Mehrbettzimmern untergebracht. Zwar gibt es Bemühung einzelner Kommunen, die Belegungssituation in den Unterbringungen zu entzerren, dieser Prozess ist aber bislang nicht flächendeckend in Gang gekommen. Eine Reduzierung der Belegungsdichte bedeutet dann häufig aber immer noch eine Belegung mit mindestens zwei Personen pro Zimmer.

In einzelnen Bundesländern ist ein Aufnahmestopp für stationäre Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe verhängt worden. Wohnungslosen Menschen bleibt nun häufig nur noch ein Unterkommen in den bereits zu dicht belegten kommunalen Notunterkünften.

Beratungsstellen müssen ihr Angebot zurückfahren und auf das Nötigste beschränken. Die Beratungskontakte können in der Regel nur telefonisch oder online erfolgen. Dies ist eine schwere Belastung für Menschen, „bei denen besondere Lebensverhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind“ (§ 67 SGB XII). Sie benötigen die Beratung und persönliche Betreuung, „um die Schwierigkeiten abzuwenden, zu beseitigen, zu mildern oder ihre Verschlimmerung zu verhüten“ (§ 68 SGB XII). Die Schließung von Angeboten wird zu weiteren psychischen und physischen Belastungen der wohnungslosen Menschen führen.

Niedrigschwellige Angebote wie Tagestreffs, Mittagstische etc. sind zu einem großen Teil geschlossen oder können nur sehr reduziert Hilfe und Unterstützung anbieten.

Die medizinischen Versorgungsangebote halten ihre Angebote äußerst eingeschränkt aufrecht oder müssen sie ganz einstellen. Insbesondere Hilfeangebote im Bereich der medizinischen Hilfen, der Nahrungsmittelversorgung, Kleiderkammern etc. sind maßgeblich auf Unterstützung ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewiesen. In den medizinischen Projekten engagieren sich viele Pflegekräfte und Medizinerinnen und Mediziner im Ruhestand, also Menschen, die aufgrund ihres Alters zu einer durch das CORONA-Virus besonders gefährdeten Personengruppe gehören.

Wegen Behördenschließungen haben Betroffene Schwierigkeiten ihren ALG II-Tagessatz zu erhalten oder dringend benötigte Ausweispapiere zu beantragen, die aber wiederum Voraussetzung zur Beantragung von Sozialleistungen sind. Um hier Abhilfe zu schaffen und Leistungen beantragen zu können erscheint ein Rückgriff auf § 52a Abs. 1 Nr. 2 SGB II sinnvoll. Hiernach darf die Agentur für Arbeit bei Personen, die Leistungen nach diesem Buch beantragt haben, beziehen oder bezogen haben, Auskunft aus dem Melderegister nach den §§ 34 und 38 bis 41 des Bundesmeldegesetzes und dem Ausländerzentralregister einholen soweit dies zur Bekämpfung von Leistungsmissbrauch erforderlich ist. Die Nr. 52a.21 der Fachlichen Weisungen der Agentur für Arbeit führen zu § 52a SGB II aus: Die Überprüfung von Meldedaten kann z. B. bedeutsam sein zur Beurteilung der Frage des ständigen Wohnsitzes der leistungsberechtigten Person und ihrer Bedarfsgemeinschaft.

Einnahmequellen für wohnungslose Menschen sind versiegt: Das Sammeln von Pfandflaschen, der Verkauf von Straßenzeitungen und auch das Betteln sind in leergefegten öffentlichen Räumen inzwischen kaum mehr möglich.

Die von der Regierung angeordneten Kontaktverbote, die gebotenen hygienischen Schutzmaßnahmen sind mit den Lebensumständen wohnungsloser Menschen nicht vereinbar. Zugleich sind viele wohnungslose Menschen, die ganz ohne Unterkunft auf der Straße leben, die in Sammel- oder Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind, in prekären Mitwohnverhältnissen oder in sonstigen Dauerprovisorien leben, eine gesundheitlich hoch belastete Bevölkerungsgruppe. Sie leiden häufiger als die Mehrheitsbevölkerung unter Mehrfacherkrankungen.

Viele wohnungslose Menschen gehören also zur Corona-Risikogruppen, haben aber keine Chance soziale Kontakte zu reduzieren, die notwendigen Hygienemaßnahmen einzuhalten und Schutz durch den Rückzug in die eigene Wohnung zu finden.

 

Die Mitarbeitenden und die Dienste und Einrichtungen der Hilfen im Wohnungsnotfall

Es ist unabdingbar, in dieser Notlage die Infrastruktur für wohnungslose Menschen aufrechtzuerhalten. Dies bedeutet für Mitarbeitende eine teilweise extrem hohe Belastung und kann nur gelingen, wenn die Hilfeangebote entsprechend gut ausgestattet und der Krisensituation angepasst sind.

Die Krisensteuerung durch die Verwaltung ist vielerorts mangelhaft: Informationen werden nicht zentral gesammelt und verteilt. Die Kommunikation mit den Gesundheitsämtern ist im gesamten Bundesgebiet schwierig. Die Hotlines sind hochfrequentiert. Für die Dienste und Einrichtungen gibt es keine separate Auskunft.

In den Diensten und Einrichtungen herrscht ein großer Mangel an Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln. Diese sind in vielen Fällen kaum mehr vorhanden und auch nicht mehr zu beschaffen.

Es fehlt an Corona-Tests für Mitarbeitende und für die Klientinnen und Klienten der Einrichtungen. Dies führt zu großer Verunsicherung bei den Mitarbeitenden und zu Verunsicherung und Ängsten bei den Bewohnerinnen und Bewohnern der Unterkünfte und stationären Einrichtungen: Einerseits sind Klientinnen und Klienten aufgrund ihrer sozialen Schwierigkeiten und der besonderen Lebensverhältnisse nicht in der Lage Abstandsgebote und hygienische Maßnahmen einzuhalten, andererseits werden im Alltagsbetrieb stationärer Einrichtungen, selbst wenn diese über Einzelzimmer verfügen, Küchen und sanitäre Anlagen gemeinschaftlich genutzt. Häufigere Testungen wären für die wohnungslosen Menschen und die Mitarbeitenden von Gemeinschaftsunterkünften eine wichtige Maßnahme, um einen frühzeitigen Infektionsschutz organisieren zu können.

 

Quarantänemaßnahmen nicht abgesichert

In vielen Kommunen gibt es bisher wenige Vorkehrungen, um für wohnungslose Menschen Quarantänemöglichkeiten vorzuhalten. Dezidierte Notfallpläne bei einer bestätigten Erkrankung mit Corvid-19 sind nicht bekannt.  Erst einige Kommunen und die Stadtstaaten Berlin und Hamburg haben begonnen kommunale Unterbringungsmöglichkeiten durch die Anmietung zusätzlicher Räumlichkeiten zur erweitern und auch die Quarantäneunterbringung wohnungsloser Menschen vorzusehen.

Stationäre Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe haben je nach ihren Möglichkeiten Zimmer oder Wohnbereiche mit eigener Küche und Bad geräumt bzw. zu Isolierzimmern und -wohnungen umgewidmet. Ob diese Maßnahmen ausreichend sind, bleibt ungewiss. 

 

Wohnungsnotfallhilfe als Teil der kritischen Infrastruktur

Unter den gegebenen Umständen ist es vollkommen unverständlich, dass die Hilfen im Wohnungsnotfall bislang nur in den Bundesländern Baden-Württemberg, Bayern und Berlin sowie in wenigen Kommunen anderer Bundesländer explizit der systemrelevanten kritischen Infrastruktur zugeordnet werden.

Das Wort "systemrelevant" bestimmt im aktuellen Zusammenhang, welche Berufe als grundsätzlich unverzichtbar für das Gemeinwesen gelten. Es werden also Personengruppen definiert, die beruflich in sogenannten „kritischen Infrastrukturen“ tätig sind. Die Liste der systemrelevanten Berufe und Berufsgruppen wird von den Bundesländern geführt und kann variieren.

Kritische Infrastrukturen sind gemäß des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI‐Gesetz‐BSIG) wie folgt definiert: „Organisationen und Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen einträten."

Aktuell ist eine solche Zuordnung für die Dienste und Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe wichtig, damit Mitarbeitende beispielsweise eine Kindernotbetreuung einfordern können und es damit nicht zu weiten Personalengpässen kommt. Die Zuordnung zur kritischen Infrastruktur erleichtert auch den Zugang der Dienste und Einrichtungen zu den notwendigen Schutzuntensilien, die häufig Voraussetzung zur Aufrechterhaltung der Arbeit sind.

 

Sofortiges Aussetzen von Zwangsräumungen

In der gegenwärtigen Krise ist es nicht verantwortbar, Zwangsräumungen von Wohnungen vorzunehmen. Mietschulden entstehen nicht erst durch den Verdienstausfall in der Corona-Krise. Deshalb müssen die vor der Krise eingeleiteten Räumungsverfahren jetzt verbindlich ausgesetzt werden. Menschen dürfen in dieser Situation nicht aus ihren Wohnungen geräumt und in Notunterkünfte eingewiesen werden, die schon jetzt überfordert sind und in denen eine Kontaktreduzierung nicht möglich ist.

 

Dienste und Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe wirtschaftlich absichern

Die Dienste und Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe müssen wirtschaftlich abgesichert sein. Sollte die öffentliche Infrastruktur aufgrund der Krise längerfristig nur stark eingeschränkt funktionieren, also bspw. Entgelte und Zuwendungen nicht mehr fristgerecht fließen, könnte es zu ungewollten Zahlungsunfähigkeiten und Insolvenzen der Hilfeangebote kommen. Für die Träger und Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe müssen bei Bedarf auch zusätzliche Mittel von Kommunen, Bundesländern und des Bundes unbürokratisch zur Verfügung stehen.

 

Solidarität jetzt!

Es ist absehbar, dass Engpässe bei der Versorgung der wohnungslosen Menschen in allen existentiellen Lebensbereichen auftreten und anhalten werden. Deswegen ruft die BAG W die Bevölkerung in Deutschland zur Solidarität mit den wohnungslosen Mitbürgerinnen und Mitbürgern auf!

 


Diese Empfehlungen und Forderungen basieren maßgeblich auf den Ergebnissen einer  aktuellen Umfrage im März/April  2020 unter den Mitgliedern und Mitgliedseinrichtungen der BAG Wohnungslosenhilfe

 

Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an:

Werena Rosenke, Geschäftsführerin BAG W, 0151-16 70 03 03, werenarosenke@bagw.de


 
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