In Zeiten von Minusgraden und Lockdown sind die Orte rar, an denen Wohnungs- und Obdachlose sich aufwärmen und schlafen können. In Göttingen geben Betroffene und Helfer Einblick in ihren Alltag.Mehr...
Göttingen, 16. Februar 2021. Schnellen Schrittes bahnen sich die Reisenden ihren Weg zwischen den Schneehaufen auf dem Vorplatz des Göttinger Bahnhofs. Auf dem Bahnsteig hinter der Eingangshalle sitzt Andreas Overdick im Häuschen der Bahnhofsmission. Der Diakon leitet die Einrichtung seit drei Jahren. "Der Bahnhof ist gerade einer der ganz wenigen Orte, wo Wohnungslose sich aufwärmen können. Wir sind froh, dass die Deutsche Bahn diese Menschen hier duldet", sagt er.
Er öffnet das Fenster und reicht einem jungen Mann einen Lunchbeutel heraus. Zwanzig bis dreißig solcher Beutel verteile er jeden Tag. Darin befinden sich ein belegtes Knäckebrot, eine Bifi, Kekse und Mineralwasser. "Der Hunger ist eines der häufigsten Probleme unserer nichtreisenden Gäste. Wenigstens hier können wir helfen", sagt Overdick. Wegen der aktuellen Hygieneregeln darf er seit fast einem Jahr niemanden zum Aufwärmen in seine Räume lassen. "Das macht es schwer, mit den Leuten in Kontakt zu bleiben."
Diesen Kontakt suchen Mike Wacker und Daniel Rainers auf dem Bahnhofsvorplatz. Als Streetworker des Göttinger Diakonieverbandes bieten sie unter anderem Eintopfkonserven und andere Lebensmittel an. Sie verteilen Masken und warme Kleidung und vermitteln auf Wunsch einen Platz in der Notunterkunft. "Für viele unserer Klienten ist es wichtiger, dass sich überhaupt jemand für sie interessiert und dass sie mit jemandem sprechen können", sagt Wacker. Die beiden treffen auf Raphael, einen Mann um die Dreißig mit einem Tetrapack Weißwein in der Hand. Er hat die Nacht in Zügen auf der Strecke Göttingen-Hannover verbracht. "Viele Obdachlose meiden die Notunterkünfte, wegen der fehlenden Privatsphäre und weil sie Angst vor Konflikten mit Mitbewohnern haben", erläutert Rainers.
Darauf weist auch Gisela Sauter-Ackermann von der Bundesgeschäftsführung der Bahnhofsmissionen hin. Aus ihrer Sicht müssen die Kommunen mehr Einzelquartiere bereitstellen, etwa in Hotels. "Die Sammelunterkünfte sind keine Lösung, aus Infektionsschutzgründen, aber auch, weil sich die Menschen hier nicht wirklich zurückziehen und erholen können", erklärt sie. "Wenn wir möglichst viele Menschen dauerhaft von der Straße holen möchten, müssen wir ihnen Gelegenheit geben, sich wieder an das Wohnen zu gewöhnen."
Das Zutrauen und die Kompetenzen, die das erfordere, hätten Wohnungs- und Obdachlose oft verloren, fügt Sauter-Ackermann hinzu. "Termine einhalten, Ordnung halten oder mit Nachbarn zurechtkommen: All dies verlernen Sie auf der Straße schnell. Umso schöner ist es, zu sehen, wie viel möglich wird, wenn jemand ein paar Nächte in einem Hotelbett schlafen durfte."
Mike Wacker und Daniel Rainers gehen weiter Richtung Innenstadt. Der Rewe-Supermarkt ist hier während des Lockdowns einer der wenigen belebten Orte. Vor dem Eingang sitzt Nicole auf einer Decke, vor sich ein Körbchen mit einer paar Münzen und einige Pappbecher mit Tee. Mit 14 Jahren habe sie angefangen, Drogen zu nehmen. Bald sei sie heroinabhängig gewesen, erzählt sie. "Seitdem lebe ich ganz auf der Straße." Solange es kalt ist, kann sie in der Wohnung eines Bekannten übernachten. "Wenn es wieder wärmer wird, macht es mir nichts aus, die Nacht draußen zu verbringen." Ihr Tagesziel sei es, mindestens dreißig Euro zu erbetteln, sagt sie. Bei Winterwetter seien die Passanten großzügiger. Heute sei ein besonders guter Tag gewesen, sagt sie und zeigt den dicken Wollmantel, den ihr ein Mann geschenkt hat.
Aber nicht alle Wohnungs- und Obdachlosen können bei Bekannten unterkommen. Overdick appelliert an Politik, Unternehmen und Institutionen, Schlafraum zur Verfügung zu stellen. So habe eine Friseurmeisterin ihre derzeit ungenutzten Geschäftsräume angeboten. Auch die muslimische Hochschulgemeinde habe ihre Hilfe angeboten. Geldspenden würden der Bahnhofsmission auch helfen, sagt Overdick. "Was aber wirklich jeder tun kann, ist aus meiner Sicht noch wichtiger: Reden Sie mit den Menschen!" Betteln um Geld sei meistens auch der Versuch, in Kontakt zu kommen. "Bieten Sie das Gespräch an und fragen Sie, wie Sie helfen können, und sei es nur mit einem Butterbrot. So eine Geste kann unheimlich viel bedeuten."
Urs Mundt, epd
www.evangelisch.de