Vor 100 Jahren wurde die Bahnhofsmission Tübingen gegründet
TÜBINGEN. Die Anfänge der Bahnhofsmission Tübingen reichen bis in die Anfänge des ersten Weltkrieges zurück. Aus einem Bericht Mehr... des Ortsverein der Deutsch-Evangelischen Frauen (DEF), dem Träger des Charlottenhauses, geht hervor, dass Frauen der DEF im ersten Weltkrieg Soldaten betreuten, Verwundete pflegten und für durchreisende Soldaten eine Erfrischungsstation am Bahnhof Tübingen einrichteten. So war also seit Beginn des Krieges bereits ein Bahnhofsdienst in Tübingen vorhanden. Schwester Christine, die Leiterin der Frauenherberge Charlottenhaus, einem Aufnahmehaus für alleinlebende, mittellose Frauen, für durchreisende Frauen oder für Mütter, deren Kinder in der Klinik behandelt wurden und dessen Träger der DEF war, widmete sich dem Bahnhofsdienst, um ankommenden und durchreisenden Mädchen zu helfen.
Im Jahre 1919 war Theodora Reineck die Vorsitzende der Interkonfessionellen Konferenz der Bahnhofsmissionen in Tübingen. Dort warb sie bei einem Vortrag im Tübinger Paul Lechler Krankenhaus vor Missionaren für die Hilfsdienste der hiesigen Bahnhofsmission, „was zur Folge hatte, dass einige derselben die Bahnhofsmission mit gutem Erfolg in Anspruch nahmen“. Das Charlottenhaus zog Anfang April 1919 in die Nähe des Bahnhofs um. Die Hilfe von Bahnhofsmission und Charlottenhaus bestand viele Jahre auf Gegenseitigkeit. 1926 wird eine Zuwendung von 60 Mark aus der Sammlung der Bahnhofsmission an die Frauenherberge notiert. Bis zur Schließung der Bahnhofsmission im Jahre 1939 gibt es mehrere Hinweise auf eine Zusammenarbeit des DEF mit dem Verein der Freundinnen junger Mädchen, dem heutigen Verein für Internationale Jugendarbeit (vij), Träger der Bahnhofsmission.
Am 14. März 1916 erfolgt die Eintragung als „Deutsche Evangelische Bahnhofsmission“
Bereits in dem kleinen Ratgeberheftchen des Freundinnenvereins ist 1902 vermerkt, dass reisende Mädchen sich in Tübingen Rat und Hilfe bei „Fr. Dekan Elsässer, Frl. Quenstedt“ holen können. Diese „Freundinnen“ holten angemeldete Mädchen dann am Bahnhof ab und brachten sie zu den Mädchenwohnheimen. Diese Hilfe wurde zuerst in Großstädten wie Berlin, München, aber auch in Paris, Zürich oder Belgrad geleistet. Dort, wo es diese Hilfen gab, entstanden evangelische Bahnhofsmissionen bereits unter dem Dach und durch die Initiative des Freundinnenvereins. Die aufsuchende Bahnhofsmission war für kleine Städte die erste Möglichkeit, sich der Bahnhofsmissionsbewegung anzuschließen. Zudem gab sich die bis 1916 im Rahmen von Innerer Mission und Freundinnenverein aufgebaute Evangelische Bahnhofsmission einen strukturellen Rahmen, indem am 14. März 1916 die Eintragung als „Deutsche Evangelische Bahnhofsmission“ in Berlin erfolgte.
Im Jahresbericht 1915 des Tübinger Ortsverbandes der Deutsch-Evangelischen Frauen ist zu lesen, „Schwester Christine widmete sich dem Bahnhofsdienst, um ankommenden und durchreisenden Mädchen zu helfen“. So kann davon ausgegangen werden, dass der Anfang der Tübinger Bahnhofsmission vor oder unmittelbar mit dem Beginn des ersten Weltkrieges zusammenfiel, denn während des Krieges wurden kaum neue Bahnhofsmissionen gegründet, die bestehenden allerdings personell aufgerüstet. Mehr als 250 Armbinden wurden in den ersten Kriegswochen deutschlandweit verschickt, 1916 nochmals 400.
Damals gab es im 15. Rundschreiben der Deutschen Bahnhofsmission einen Bericht über die Zustände am Bahnhof und ein Aufruf an die Mitarbeitenden, für Ruhe und Ordnung auf den Bahnhöfen zu sorgen. „Einige Tage namenloses Drängens, haushohe Koffertürme, auf den Straßen Bittende, Suchende, Hoffnungslose, wo man nur hinblickte … die Mitarbeitenden waren Tag und Nacht an dem Bahnhof, als der Verkehr der zu befördernden Gruppen schwieriger wurde, durfte nur noch die Armbinde die Sperre passieren.“
Ein Plakat von 1923, das nach dem Krieg in den Bahnhöfen hing, verweist in Tübingen auf eine katholische Bahnhofsmission, die von Frau Baumann betreut wurde, somit waren nach dem ersten Weltkrieg beide Konfessionen am Bahnhof vertreten. Zum 30. September 1939 wurde die Tätigkeit ganz verboten, im Mai 1940 wurde der Ortsverband der Freundinnen wie alle anderen konfessionellen Verbände per Erlass aufgelöst.
Die Missionarinnen knüpften nach der Schließung 1939 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs an alte Traditionen an und machten Pläne für die Zukunft. Grete Rapp, die Vorsitzende des örtlichen Freundinnenvereins, verwies in ihrer Rede am 23. Oktober 1972 zum 25. Jahrestag der Wiedereröffnung der Bahnhofsmission in zwei kurzen Anfangssätzen auf ein „früher“ der Existenz eines Bahnhofsdienstes und dem „Verbot im Dritten Reich“.
Bretterverschlag zur Wiedereröffnung 1947
Die Wiedereröffnung am 1. September 1947 war von Mangel und Improvisation begleitet. Ein kleiner Bretterverschlag im Bahnhofsgebäude, ein Kohleofen, für den Kohlebezugsscheine beantragt wurden. Zusätzliche Seifenrationen für die Mitarbeitenden wurden erbeten, weil sie „täglich mit einer Reihe kranker Menschen zusammen“ seien.
Die „wandernde Kirche“ und ihre katholischen und evangelischen Mitglieder stehen „vor einem Wanderelend, das in keinem Vergleich steht zu allen früheren Problemen …“ ist im Mitteilungsblatt der Freundinnen zu lesen.
Grete Rapp, die ehrenamtliche Leiterin fand eine hauptamtliche Mitarbeiterin, Magdalena Fiebig, und nahm Kontakt zur ehemaligen katholischen Leitung Fräulein Mayer und der Caritasvorsitzenden Agnes Nostiz auf. Als katholische Mitarbeiterin wurde ein Fräulein Petersen eingestellt. Der Dienst wurde im Wechsel in zwei Schichten versehen. Die Mitarbeitenden und einige Ehrenamtliche sorgten für Entlastung des Bahnpersonals und kümmerten sich auch um die sozialen Belange in der Stadt. So sahen sie die Notwendigkeit einer Unterkunft für Obdachlose und setzen sich für eine Lösung ein. Die beantragte und von Kirche und Stadt genehmigte Übernachtungsbaracke in der damaligen Kastanienallee wurde jedoch nie gebaut.
Umzug 1989 ins ehemalige königlichen Wartehäuschen
Die Flüchtlinge und Kriegsheimkehrer der Nachkriegsjahre, die Einreise der ersten Gastarbeiter, DDR-Besucher in den 70er Jahren, Flüchtlingsströme in den 80er Jahren, Übersiedler aus Ostdeutschland in den 90ern sorgten immer für regen Zulauf zur Bahnhofsmission. Helfen in der Not, Reiseauskünfte, Vermittlung, Verpflegung, Wäsche, Unterkünfte besorgen, jhk – es gab kaum ein Gebiet, für das die Mitarbeitenden nicht zuständig waren. Die Klientel änderte sich, die Wünsche und Bedürfnisse glichen sich. Die Bahnhofsmission zog mehrmals um in andere Räume, bis sie 1989 in ihrem jetzigen Domizil, dem ehemaligen königlichen Wartehäuschen, an Gleis eins landete.
Aufgaben heute: Die Wohlfahrtsverbände schufen in den Städten in den vergangenen Jahrzehnten ein solides Auffang- und Hilfenetz für Obdachlose. Tafelläden, Wohnsitzlosenheime, betreute Wohnformen, Kleiderkammern – die Kommunen entwickelten und unterstützten Transferleistungen für Hilfsbedürftige. Bahnhofsmissionen leisten neben ihrer Hilfe am Bahnhof Vermittlungsdienste in dieses Netzwerk.
Ein Schwätzchen in der Bahnhofsmission, ein Glas Wasser, und dann mit Hilfe der Bahnhofsmission zum Zug. Oder Menschen, denen das Leben bereits in jungen Jahren aus den Händen glitt. Drogenabhängig, elternlos, ohne Schulabschluss und Perspektive, suchen sie den Kontakt zur Bahnhofsmission. Ein Begleitdienst für Kinder und Senioren trägt wachsenden Mobilitätswünschen Rechnung. Zunehmend treffen die Helfenden auf verwirrte Seniorinnen und Senioren, die aus Altersheimen fortlaufen und den Weg nicht zurückfinden.
2009 wird das Nachtcafè gegründet
Psychisch belastete Menschen tauchen in den Bahnhofsmissionen immer häufiger auf. Darauf reagierte die Bahnhofsmission Tübingen im Jahr 2009 mit einem neuen Projekt. Einsamkeit, psychische Probleme und materielle Not halten sich nicht an Öffnungszeiten. Gerade abends, wenn alle Beratungsstellen geschlossen haben und Notübernachtungen nicht mehr erreichbar sind, fehlte in der Stadt ein Ort, der noch Hilfe und Ruhe anbieten konnte. Das Nachtcafé schließt somit eine Betreuungslücke im sozialen Netzwerk der Stadt.
Mit dem neuesten Dienst, der Bahnhofsmission Mobil, die 2012 in Tübingen etabliert wurde, wird eine Mobilitätslücke geschlossen. Kinder, die nicht allein zum Elternteil oder zu den Großeltern fahren können oder Menschen mit Assistenzbedarf können mit ausgebildeten Reisebegleitern oder -begleiterinnen sicher mobil sein und gut am Zielort ankommen.
Mit der Lichterstube ging die Bahnhofsmission in Tübingen ebenfalls neue Wege. Ein Weihnachtsangebot für Menschen, die sonst kaum Weihnachten feiern, weil sie arm oder allein sind, haben seit drei Jahren eine Möglichkeit, gemeinsam Weihnachten zu feiern. So reagiert Bahnhofsmission auf die Nöte der Zeit, immer nah an den Menschen, immer anders aber verlässlich und hoffentlich noch lange auch in Tübingen am Gleis 1. [Sylvia Takacs, Fachbereichsleitung der Evangelischen Bahnhofsmission in Württemberg]