30. AUGUST 2020

Gedanken zum 12. Sonntag nach Trinitatis

Kurz nach der Wiedervereinigung, ich glaube, es war im Jahr 1991, wurde in der Berliner Oranienburger Straße ein Haus von Künstlern besetzt, das bald über die ganze Stadt hinaus bekannt wurde: das Tacheles. In ihm entwickelten Künstlerinnen und Künstler eine besondere Kunstfertigkeit. Sie konnten aus Schrott, den andere wegwerfen und dem kein Wert mehr zugemessen wurde, neue Kunstwerke entstehen lassen. Das war damals etwas Neues in einer Welt, die auf Wegwerfen, Ersetzen, Neumachen eingestellt war. „Warum überhaupt waschen, lieber gleich neu kaufen" nahm eine Modekette die verbreitete Haltung auf. Meine Frau hat einmal nach einem Berlinbesuch einen Fisch als Kunstwerk aus Schrott mitgebracht, der heute noch unseren Flur ziert. Das Berliner Künstlerkollektiv hat ganz bewusst eine Haltung gepflegt, durch die auch vermeintlich Wertlosem Wichtigkeit gegeben wurde.


Für mich spiegelt sich in diesem Verhalten etwas wider von dem, was im Wochenspruch für diese Woche als Haltung Jesu Christi beschrieben wird: „Das geknickt Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen" (Jesaja 42,3). Geknickte Rohre und glimmende Dochte haben gemeinhin keinen Wert. Geknickte Rohre können sich nicht mehr entfalten und glimmende Dochte hören auf zu leuchten, sie scheinen ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen zu können und damit wertlos zu werden. Die Haltung Jesu ist eine absolute Antihaltung zu der, die sonst unter den Menschen gilt. Man achtet das Leuchtende, Sichtbare, Gefällige, Ansehnliche, das Effektive und erfahrbar Wirkungsvolle.


Gott hat eine andere Sicht auf uns Menschen. Er lässt sich nicht blenden, sondern sieht Wert auch dort, wo sich nicht sofort messbarer Nutzen daraus ziehen lässt. Das gilt zunächst persönlich für uns selbst. Kennen wir nicht unsere Unzulänglichkeiten, unser Versagen, manchmal auch eigene Sinnlosigkeit? Gott sieht in mir, was ich selber nicht mehr wahrnehme, wie ein Künstler, der aus Wertlosem ganz Neues entstehen lassen kann. Solche Erkenntnis richtet auf, sie gibt Kraft, ja hilft zur eigenen Bejahung, trotz aller Schwächen, zuweilen auch Schuld, mit der ich lebe.


Und die Sichtweise Christi verhilft auch zu einer neuen Sichtweise auf andere Menschen. Jeder Mensch ist wertvoll, auch wenn es schwerfällt, dies zu sehen. In den Bahnhofsmissionen treffen wir immer wieder Menschen, die wie glimmende Dochte und geknickte Rohre sind, die mit ihrem Leben nicht mehr zurechtkommen, die Bürden von schweren Geschichten mit sich rumtragen, die auch manchmal nicht mehr weiterkommen.


Ihnen misst Gott den gleichen Wert bei wie mir. Sie sind wichtig. Und manchmal erfährt man sogar wie aus einem Menschen selbst nach Jahren noch ein neues Lebenskunstwerk entsteht, eine Erfahrung, die wir in den Bahnhofsmissionen auch immer wieder machen. Umso schöner, wenn es gelingt, daran mitwirken und können.


Klaus-Dieter Kottnik

Klaus-Dieter Kottnik ist Pfarrer der Württembergischen Landeskirche in Ruhe und Bundesvorsitzender der Bahnhofsmission.

 

Schreiben Sie ihm unter kd.kottnik@remove-this.bahnhofsmission.de