03. JUNI 2021

Gedanken zu Fronleichnam 2021

Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist (Lk 6,36)

 

Wer sich in der Bahnhofsmission engagiert, sollte sich anrühren und berühren lassen. Es ist gut, möglichst viel Empathie für die Gäste mitzubringen und sensibel und mitfühlend zu sein. Denn Bahnhofsmission ist tätige Nächstenliebe. Und das hat viel mit Mitleid und Barmherzigkeit zu tun.

 

Aber Hand aufs Herz: Ist es wirklich Barmherzigkeit, was Sie selbst sich von Ihren Mitmenschen, etwa von Ihrem Arbeitgeber, der Behörde, Ihrer Partnerin, Ihrem Freundeskreis wünschen?

 

Für die meisten trifft das wohl nur in Momenten zu, in denen sie sich in einer schwachen Position fühlen. Etwa wenn ihnen ein Fehler unterlaufen ist. Ansonsten möchten wir im Allgemeinen das haben, was uns rechtmäßig zusteht. Oder aber etwas, das aus freiem Herzen von Gleich zu Gleich gegeben, verschenkt wird.

 

Was ist mit der Barmherzigkeit passiert, dass sie so stark mit Bildern von oben und unten verbunden ist? Warum denken wir bei Barmherzigkeit eher an Almosen als an Anerkennung, eher an Suppenküche als an Empowerment?

 

Aber schauen wir uns den Jahresspruch näher an. Er fordert uns dazu auf, so barmherzig zu sein, wie Gott zu uns barmherzig ist. Die Frage ist also, wie Gott zu uns barmherzig ist.

 

Na super, werden da viele denken: Da ist es ja schon wieder, dieses Oben-Unten-Bild. Denn was könnte hierarchischer sein als das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen? Da oben im Himmel der allmächtige Herrscher und unten auf der Erde wir – allesamt endlich und fehlbar.

 

Da hilft es vielleicht, in die Bibel zu schauen. Wie zeigt Gott eigentlich dort seine Barmherzigkeit mit den Menschen? Mir fallen dazu Weihnachten und Ostern ein. In der Krippe und am Kreuz zeigt sich Gott genauso schwach und verwundbar wie jede*r von uns. Gott macht sich gleich mit uns, er stellt sich auf unsere Stufe. So schließt er uns in sein Erbarmen ein. Nicht von oben herab, sondern frei und unverdient, nicht erniedrigend, sondern stärkend und aufrichtend. Auf diese Weise wertet er uns in seiner Barmherzigkeit auf.

 

Also doch: Barmherzigkeit von gleich zu gleich. Aber wie kann das gehen?

 

Wie man es nicht machen soll, habe ich letztes Wochenende erlebt. Ein älterer Mann mit Rollator überquerte eine holprige Kopfsteinstraße. Er tat sich sichtlich schwer damit. Die Räder seines Rollators verfingen sich in den Ritzen des Pflasters und verdrehten sich. Also frage ich ihn, ob ich ihm helfen solle. Er verneinte und sagte, er würde es schon schaffen. Trotzdem machte ich mich an den Rädern seines Rollators zu schaffen. Da regte er sich mächtig auf. Schließlich habe er ja deutlich gesagt, dass er keine Hilfe wolle. Tatsächlich hatte ich seinen Wunsch nicht respektiert. Ich hatte ihm unterstellt, dass er zu höflich oder zu bescheiden sei, meine Hilfe anzunehmen. Das war übergriffig und er hatte ein Recht, sich zu wehren. Denn im meinem gut gemeinten Übereifer hatte ich ihm etwas abzunehmen versucht, das er selbst konnte.

 

Wir sollten unsere überkommenen Bilder von der Hilfebeziehung, wie sie gerade in der christlichen Tradition bis heute wirkmächtig sind, durch neue ersetzen. Durch Bilder, die die Gäste der Bahnhofsmission nicht auf die passive Opferrolle festschreiben. In denen vielmehr ihre Stärken, ihre Würde hervorgehoben werden. Bilder, die die Betroffenen zu selbstbestimmten Akteuren machen, sie als die eigentlich Aktiven im Hilfeprozess beschreiben.

 

Die Gäste der Bahnhofsmission brauchen Menschen die Mit-Fühlen und Mit-Leiden. Voller Respekt: barmherzig und auf Augenhöhe.

 

Gisela Sauter-Ackermann

Gisela Sauter-Ackermann

Katholische Geschäftsführung