04. JULI 2021

Gedanken zum 5. Sonntag nach Trinitatis

Aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es. (Epheser 2,10)

 

Die Bahnhofsmission als Gnadenort!

 

Das Wort ‚Gnade‘ ist in unserer Alltagssprache selten geworden. In alten Filmen begegnet manchmal noch die ‚gnädige Frau‘, in der Zeitung liest man vom ‚Gnadenerlass‘, wenn Menschen vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen werden und wenn jemand als ‚gnadenlos‘ beschrieben wird, dann ist er hartherzig, kalt und ohne Nachsicht.

 

Dass Gnade in unserem Wortschatz selten vorkommt, das war nicht immer so. Gerade in der Religion spielt Gnade eine wichtige und positive Rolle. Immer wieder kann man lesen, dass die Theologie Martin Luthers ohne Kenntnis seines Gnadenverständnisses kaum zu erfassen ist. Luther knüpft an Paulus an. In dessen Briefen kommen ‚Gnade‘ und ‚gnädig sein‘ sehr oft vor, meist als Beschreibung von Gott und seinem Wesen. Schaut man diese Bibelstellen an, so sind es ausgesprochen positive Begriffe, mit denen die Gnade umschrieben werden kann: Freundlichkeit und Milde, Barmherzigkeit und Güte, Wohlwollen und Zugewandtheit, Offenheit und Geschenk, Verzeihung und Nachsicht. Mit der Gnade wird die Haltung Gottes uns Menschen gegenüber beschrieben. Ein gnädiger Gott ist ein zugewandter, verzeihender, liebender Gott, der uns aus Gnade annimmt, d.h. umsonst, geschenkt und ohne Vorleistung.

 

Gnade ereignet sich auch heute in Begegnung und Beziehung. Als Orte der Gnade erlebe ich die Arbeit in den Stationen der Bahnhofsmission. Es sind Orte der Nächstenliebe, in denen die offene Haltung der Mitarbeitenden gegenüber den Besuchern und Hilfssuchenden Gottes Gnade und Freundlichkeit widerspiegeln. Ohne Vorurteile werden Menschen hier aufgenommen, Hilfe geschieht umsonst, ‚ohne Ansehen der Person‘. Die Mitarbeitenden sind in ihrem Verhalten den Reisenden wie den ‚Stammkunden‘ gegenüber zugewandt und strahlen etwas von der Freundlichkeit aus, die es Menschen möglich macht, sich willkommen und angenommen zu fühlen. In der Begegnung erleben Menschen die gnädige Zuwendung Gottes.

 

In der Hektik, dem Trubel, der Unpersönlichkeit und kommerziellen Kühle vieler Bahnhöfe sind die Stationen der Bahnhofsmission für mich daher ‚Gnadenorte‘ der Menschlichkeit und Annahme Es sind Orte, an denen Menschen als Menschen begegnet wird. Nicht ohne Grund kann die Arbeit der BM daher auf eine lange Geschichte zurückblicken und ich bin immer wieder dankbar dafür, dass sich so viele Menschen finden, die sich als Haupt- und Ehrenamtliche auf den Bahnhöfen für die Menschen einsetzen. In vielen dieser Begegnungen blitzt die Gnade Gottes auf – Gottes Gabe für uns.

 

Jörg Hagen

Jörg Hagen

Propst des Ev.-luth. Kirchenkreises Uelzen,

Vorsitzender der Landesgruppe Niedersachsen  

der Deutschen Evangelischen Bahnhofsmission