31. DEZEMBER 2021

Gedanken zum Altjahrabend und Neujahr

„Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit, (…) eine Zeit zum Suchen und eine Zeit zum Verlieren, eine Zeit zum Behalten und eine Zeit zum Wegwerfen.“ (Kohelet 3, 1 und 6)

 

Schon seit Jahren verzichten wir in unserer Familie auf Raketen und Böller an Silvester. Gleichwohl wird das alte Jahr auch von uns ordentlich verabschiedet und das neue Jahr mit einem Prost begrüßt, nur nicht mit Schwarzpulver. Wir halten inne. Der Jahreswechsel bietet die Chance, „zwischen den Jahren“, wie es so schön heißt, mit dem alttestamentlichen Text von Kohelet unsere Gedanken ein wenig kreisen zu lassen über das, was war und das, was wir für das nächste Jahr erwarten, erhoffen und erbitten.

 

Das Buch Kohelet entfaltet in erschreckender Nüchternheit seinen besonderen Reiz, weil es die Dialektik der menschlichen Existenz so treffend zum Ausdruck bringt. Wir werden hin- und hergerissen zwischen Suchen und Finden, Verlieren und Behalten, Sammeln und Wegwerfen. Gerade in diesen modernen Zeiten erleben wir die Triumphe der pharmazeutischen Forschung zeitgleich mit der Ohnmacht vor den Herausforderungen einer weltweiten Pandemie. Wir wissen seit dem 1972 erschienenen Report des Club of Rome von den „Grenzen des Wachstums“ und heizen dennoch dieses Wachstum bis heute unvermindert an, weil es unseren vermeintlichen Wohlstand steigert. Wir sehen in die Abgründe menschlicher Kriegsführung zwischen Völkern und Nationen und können von der einträglichen Produktion von Waffen nicht lassen. Wir könnten den Hunger in der Welt erfolgreich bekämpfen, wenn wir die Verschwendung von Nahrung stoppen, Vorhandenes gerecht verteilen und den Menschen weltweit die Chance friedvollen und nachhaltigen Wirtschaftens ermöglichen würden. Wir kommen uns in den diakonischen Diensten, so auch in der Bahnhofsmission, vor wie die Figur des Sysiphos in der altgriechischen Mythologie: Wir helfen, aber der Stein rollt immer wieder zurück und wir müssen von vorn beginnen. 

 

Vielleicht, liebe Leserinnen und Leser, empfinden Sie bei der Rückschau auf das Jahr 2021 eine gewisse existentielle Hilflosigkeit angesichts mancher Lebensumstände und gesellschaftlicher Zustände. Kohelet ist so etwas wie ein alttestamentlicher Existentialist, hineingeworfen in die Widersprüchlichkeiten der Welt. Und dennoch glaubt er fest daran, dass diejenigen, die in der „Gottesfurcht“ leben, die Gunst der Stunde, die Gunst des Augenblicks ergreifen und zu einem Leben jenseits der Bedrängnisse und Belastungen kommen können, weil sie in allem das Suchen, was Gott daraus oder damit machen will.

 

So ist mein Wunsch für das neue Jahr 2022, dass wir unser Gelingen und unser Versagen, unser Glück und auch unseren Schmerz in Gottes Hände legen dürfen und alles zum Sinn führt.

 

Bruno W. Nikles

 

Prof. i.R. Dr. Bruno W. Nikles
Vorsitzender Bahnhofsmission Deutschland e.V.