06. JANUAR 2022

Gedanken zu „Maria Lichtmess“

Denn die Finsternis geht vorüber, und schon leuchtet das wahre Licht (1. Joh 2,8)

 

"Hier mein Geheimnis. Es ist ganz einfach: man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar." Das sagt der Fuchs am Ende seines Gesprächs mit dem Prinzen in „Der kleine Prinz“ von Antoine de Sant-Exupéry.

 

Licht ist auf jeden Fall zum Sehen wesentlich. Denn ohne Licht bleibt vieles für uns unsichtbar. Wo kein Licht eindringt, können wir nichts sehen; Augen, die kein Licht empfangen können, bleiben blind. Wesentlich ist das Licht aber auch für unsere Psyche: In der „dunklen Jahreszeit“ droht der Winterblues. Gegen die Dunkelheit zünden wir Lichter an. So wie in der Advents- und Weihnachtszeit, an Gräbern, zum Geburtstag oder in der Osternacht. Die Lichter und Kerzen stehen für Hoffnung und verbreiten Wärme – äußerlich wie innerlich.

 

Im Sprengelmuseum Hannover gibt es eine beeindruckende Lichtinstallation des amerikanischen Künstlers James Turrell. Wer sie besichtigen will, wird durch einen stockfinsteren, verwinkelten Gang geführt. Man muss sich vorsichtig mit Händen und Füßen vortasten, weil man wirklich von der Dunkelheit fest umschlossen wird. Schließlich kommt man in einen kleinen Raum mit einer Balustrade. Wie gesagt, man sieht weiterhin rein gar nichts! Man erfühlt einen Korbstuhl, setzt sich und starrt hinaus in die Dunkelheit. Wer sofort wieder geht, hat nichts gesehen außer: Dunkelheit. Nur wer sich Zeit nimmt und mindesten fünf Minuten sitzen bleibt, macht ungewöhnliche Lichterfahrungen. Nach einer Weile meint man, in der Dunkelheit etwas ganz leicht pulsieren zu sehen. Schein oder Wirklichkeit? Komischerweise sieht man das Phänomen auch mit geschlossenen Augen. Es ist verwirrend. Ist da doch etwas zu sehen in diesem finsteren Loch? Oder sind es meine inneren Bilder, meine Erinnerung an das Licht, die sich in mein Sehen drängen?

 

Bei der Installation mit dem Titel „Dark Space“ (Dunkler Raum) geht es James Turrell tatsächlich um den Vorgang des Sehens selbst. Er kommentiert dazu auf seiner Homepage: „Meine Arbeit hat mehr mit Ihrem als mit meinem Sehen zu tun, obwohl sie ein Produkt meines Sehens ist.“

 

Tatsächlich kommen Sehen und Wahrnehmen, Licht und Dunkelheit nicht einfach objektiv von außen auf uns zu. Die Erfahrung in der Installation von James Turrell ist: In einem dunklen Raum kann ich Licht sehen – oder auch nur ahnen. Vielleicht gibt es in dem Raum eine geheime Lichtquelle, deren Strahlen erst nach einer gewissen Zeit bei mir ankommen. Vielleicht war dieses Licht aber schon immer in mir.

 

Der Fuchs hat also Recht: Sehen und Wahrnehmen kommen aus unserem Inneren. Erinnerungen und Gefühle fließen in sie ein. Oder anders gesagt: Sie kommen von Herzen. Ich nehme meine Wirklichkeit vor der Folie meiner Erfahrungen, Ängste, Hoffnungen, Wünsche und Träume war: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“. Gehen wir auf diese Weise beherzt und hoffnungsvoll ins neue Jahr 2022! Denn: Die Finsternis geht vorüber, und schon leuchtet das wahre Licht.

 

Gisela Sauter-Ackermann

 

Gisela Sauter-Ackermann

Bundesgeschäftsführung Bahnhofsmission