14. JANUAR 2022

Gedanken zum 2. Sonntag nach Epiphanias

"Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade." (Johannes 1, 16)

 

Ich stelle mir einen großen Brunnen vor, vielleicht den Trevi-Brunnen. In diesen Brunnen fließt ständig klares, erfrischendes Wasser aus einer unerschöpflichen Quelle und wir schöpfen daraus dieses Wasser, trinken  und geben es weiter an andere Durstige und wenn wir es ausgegeben haben, gehen wir wieder zum Brunnen um Nachschub zu holen.

 

Bestimmt sind unsere Schritte leicht und beschwingt in der Gewissheit, dass immer genug Wasser da sein wird.

 

Haben wir unbeschränkt Zugang zu diesem Wasser? Ist Gnade nicht Geschenk?

 

Ich denke, die Voraussetzung ist der Zugang zum Brunnen, das Schöpfen und das Austeilen -  und erst der leere Krug bietet Platz für frisches Wasser.

 

Die Weitergabe der Gnade bedeutet so neue Gnade. Dass es dafür kaum einen besseren Ort als die Bahnhofsmissionen gibt, brauche ich euch nicht zu schreiben.

 

Mit jeder Tasse Kaffee, mit jedem Schlafsack, mit jeder Begegnung können wir Gnade weitergeben.

 

Was bedeutet es also, wenn Friedrich Nietsche schrieb: „Die Christen müssten mir erlöster aussehen; bessere Lieder müssten sie mir singen, wenn ich an ihren Erlöser glauben sollte.“

 

Vergessen wir vor lauter Arbeit oft, Wasser zu schöpfen, ist der Weg zum Brunnen verbaut durch aufgetürmtes Gedankengerümpel, durch Klerikalismus, Arroganz, aber auch durch den Versuch, alles alleine zu schaffen, auch weil wir Gott oft nicht hören können?

 

Vor kurzem stieß ich im Grabbelkorb einer Buchhandlung auf das Büchlein von Paul M. Zulehner „Wider die Resignation in der Kirche“. Es war von 1989 und für 50 Cent zu haben und 50 Cent für eine Stärkung ist angesichts der Situation in meiner Kirche, geprägt von Machtmissbrauch, Kirchenaustritten, Großpfarreien und äußerst schleppenden Reformprozessen, eine wirklich gute Investition. War es Gnade, dass ich dieses Büchlein sah? Ist es ein Zeichen von Gott, wenn ich auf dem Heimweg nach einem anstrengenden Arbeitstag ein buntes Blatt in Form eines Herzens auf dem Gehweg finde?

 

Ist es so, wie der frühere Seelsorgeamtsleiter des Bistums Fulda, Rudolf Hofmann, zu sagen pflegte: „Der liebe Gott tut nichts als wirken“?

 

Vielleicht nützt es schon, die to do-Listen mal beiseite zu legen, uns einen Moment der Stille zu gönnen, tief Atem zu holen und uns vorzustellen, dass wir von Gnade umgeben sind, dass alles Gnade ist.

                                                                                                                                          

Oder wie Walt Whitman schreibt: „An jeder Straßenecke finde ich Briefe Gottes, das grüne Gras ist ein duftendes Taschentuch Gottes mit seinen Initialen, das er fallengelassen hat, um uns an Ihn zu erinnern“.

 

In diesem Sinne wünsche ich euch und Ihnen eine gnaden-reiche Zeit!

 

Karin Stürznickel-Holst

 

Karin Stürznickel-Holst

Fachbereichsleitung Allgemeine Soziale Dienste

Caritasverband Nordhessen-Kassel e.V.