10. JULI 2022

Gedanken zum 4. Sonntag nach Trinitatis

„Einer trage des anderen Last; so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ (Gal 6:2)

 

Lass dir aus dem Wasser helfen, sagte der freundliche Affe und setzte den Fisch behutsam auf einen Baum.

 

Kennen Sie das auch? Die Menschen die immer tatkräftig zupacken, auch wenn sie nicht gefragt werden? Ich versuche das einmal genauer zu beschreiben: Da sitzen zwei ältere Damen in der Bahnhofsmission, die eine ist ganz entspannt, die andere läuft permanent herum um etwas zu erledigen, die Tasse der Freundin zurecht zu rücken, die Jacke der Freundin richtig über den Stuhl zu hängen, die Freundin anzuhalten, vor der Abfahrt noch einmal die Toilette zu benutzen, der Freundin den Koffer zu tragen, obwohl die entspannte Freundin dies alles alleine könnte. Im schlimmsten Fall beobachten wir dann Widerstand der zwangsbeglückten Freundin, woraufhin die Helferin wohl etwas genervt antworten wird: „Ich habs ja nur gut gemeint.“

 

In dem beschriebenen Fall fühlt sich vermutlich keiner der beiden Freundinnen nach der Hilfe besser, die entspannte Freundin nicht, da ihr die Hilfe aufgedrängt wurde, ohne dass ein Bedarf bestand, die Ego-Helferin nicht, weil ihre Hilfe abgelehnt wurde.

 

Der Satz „Einer trage des anderen Last“ ist hier vollkommen falsch verstanden! Nicht wenn ich meine Hilfe anderen aufdränge erfülle ich das Gesetz Christi, sondern dann, wenn ich das Gesetz Christi wirklich verstehe. „Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Wort zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst!“(Gal. 5:14). Liebe steht hier an erster Stelle, nicht aufgedrängter Hilfsaktionismus. Und Liebe ist langmütig, gütig, ereifert sich nicht, prahlt nicht, sucht nicht ihren Vorteil, erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, lässt sich nicht zum Zorn reizen und trägt das Böse nicht nach (vgl. Kor 13:4-7).

 

Wenn wir also die „Lasten anderer tragen“ wollen, so sollte es in Liebe geschehen, nicht in Bedrängnis. Aufgedrängte Hilfe passiert in der Regel nicht zum Nutzen Bedürftiger, sondern damit sich die Helfenden besser oder überlegen fühlen können.  In Liebe die „Lasten anderer Tragen“ heißt, sich die Erlaubnis des Bedürftigen zur Hilfestellung einholen, und dann Helfen zum einen im Sinne des Hilfsbedürftigen, zum anderen innerhalb der eigenen ganz persönlichen Grenzen. So bleiben wir auf Augenhöhe und vermeiden Überheblichkeiten. Und am Ende können sich beide Seiten bereichert fühlen.

 

Gabi Melchior

Gabi Melchior

Mutmacher am Bahnhof

Fortbildnerin Bahnhofsmission Deutschland e.V.