04. SEPTEMBER 2022

Gedanken zum 12. Sonntag nach Trinitatis

Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen“ (Jes 42, 3)

 

Was für ein herausforderndes Bild! Wir kommen aus einer Zeit, in der wir Dinge, die nicht mehr ganz funktionsfähig sind, schnell auswechseln: wir gehen los und kaufen rasch ein neues T-Shirt, ein neues Teil. Der ständig gewachsene Abfall zeigt es: wir kommen aus einer Wegwerfgesellschaft. Seit einigen Monaten erleben wir eine deutliche Zäsur. Wir fragen uns: brauche ich das wirklich nicht mehr? Muss ich das wirklich wegwerfen? Es ist gut, wenn wir anfangen, innezuhalten, einerseits gezwungenermaßen, weil wir uns manches nicht mehr leisten können, vielleicht aber auch aus Einsicht?

 

Der Prophet Jesaja zeigt, wie Gott das Kleine, in den Augen von Menschen oft Wertlose schätzt: den glimmenden Docht, der noch eine geringe Kraft zum Leuchten hat, das geknickte Rohr, das an das Gefühl der Hilfe rührt. Gott hat einen anderen Blick. Und vielleicht können wir in diesen Zeiten, wo nicht mehr alles grenzenlos zur Verfügung steht, etwas von seinem Blick lernen? Wir können manche Dinge anders sehen, die wir eher beiseite gedrückt haben. Und wir können Menschen anders sehen, nicht mit den üblichen Kategorien, mit denen sie oft in eine bestimmte Ecke gestellt werden. Wir können Wert im vermeintlich Wertlosen entdecken.

 

In unseren Bahnhofsmissionen sind immer wieder Menschen zu finden, die nicht in der Mitte der Gesellschaft stehen. Und es kommen neue Menschen dazu, die aus der Mitte herausfallen. Sie können bei uns die Erfahrung machen, dass man sie hört, sie wahrnimmt, wichtig nimmt, ja ihnen Wert gibt. Denn sie bringen von sich aus Wert mit, weil Gott jedem Menschen Wert gibt.

 

Insofern sind das nicht nur schwierige Zeiten, in denen wir leben, sondern auch Zeiten, in denen wir so manches und manchen, das und den wir für wertvoll ansahen, in einem neuen Licht sehen und anderes in anderes Licht rücken: die glimmenden Dochte und die geknickten Rohre! Gott macht es uns vor. Und manchmal sind wir selbst glimmende Dochte und geknickte Rohre. Da ist es gut, wenn jemand unsere Kraft stärkt und uns wieder aufrichtet: einerseits unser Glaube an den nahen Gott, andererseits Menschen, die uns wichtig nehmen. Wir brauchen solche Erfahrungen. Andere brauchen diese Erfahrungen ebenso.

 

Pfarrer Klaus-Dieter Kottnik

Klaus-Dieter Kottnik

Pfarrer der Württembergischen Landeskirche in Ruhe 

Vorsitzender des Bahnhofsmission Deutschland e.V.

Schreiben Sie ihm unter kd.kottnik@bahnhofsmission.de