15. JANUAR 2023

Gedanken zum 2. Sonntag nach Epiphanias

Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade.( Johannes 1, 16)

 

Der Mann in der abgerissenen Kleidung in der Schlange vor dem Ausgabetresen der Bahnhofsmission ist wütend. Er ist nicht zufrieden mit der Proviantration, die ihm die diensthabende Mitarbeiterin anreicht. Es hat sich an diesem Tag bereits zum zweiten Mal angestellt und die Ration fällt kleiner aus, als die erste. Der Mann nimmt sie trotzdem entgegen und wirft sie später, als er sich unbeobachtet fühlt, scheinbar achtlos zur Seite.

 

Wie undankbar, denkt die Mitarbeiterin und nimmt sich vielleicht vor, es beim nächsten Mal bei einer Ration zu belassen und den Mann, wenn es zu weiteren Vorfällen dieser Art kommt, gar nicht mehr zu bedienen. Der Mann wird der Kollegin vielleicht aus dem Weg gehen und sich in die Schlange stellen, wenn jemand anderes den Proviant ausgibt. Ein fiktiver Alltagskonflikt, wie er in vielen Bahnhofsmissionen so oder so ähnlich vorkommen könnte.

 

Undankbar – wie schnell ist dieses Urteil gefällt und genauso schnell wieder vergessen im hektischen Betrieb einer Bahnhofsmission. Der Konflikt aber bleibt unversöhnt zwischen der Mitarbeiterin und dem Gast, für den dieser Vorfall vielleicht ein weiterer ist in einer langen Reihe von ungelösten großen und kleinen Lebenskonflikten, an die sich, wenn sich nichts Grundlegendes ändert, weitere anschließen werden. Das Unversöhnte und das Unversöhnliche können so bestimmend werden im Leben eines Menschen und lähmen Hoffnung, Vertrauen und Zuversicht, das sich die Dinge zum Besseren wenden.

 

Wir meinen und machen es gut, wenn wir unsere Gäste in den Bahnhofsmissionen mit dem Notwendigsten versorgen, mit Essen, Trinken, warmer Kleidung oder einem Schlafsack. Wir erkennen dabei manchmal nicht, dass dieser Akt der Zuwendung eine beschämende Seite haben kann für unsere Gäste. Hier kann ein Grund für die gelegentlich unerklärliche Wut und Aggression der Menschen liegen, die uns in den Bahnhofsmissionen begegnen.

 

Versetzen wir uns in ihre Lage: Würden wir gerne von Almosen abhängig sein? Wem würden wir die Schuld für unsere Situation geben? Wer hätte uns enttäuscht und gegenüber wem würden wir uns schuldig fühlen?

 

Jesus hält den Schriftgelehrten, die ihm die von der Steinigung bedrohte Ehebrecherin auf den Ölberg bringen, den Spiegel vor und gibt ihnen auf, sich ihrer eigenen Sünden zu vergewissern. „Sie gingen weg, einer nach dem anderen“ (Joh.8,7). Der Frau aber hört er zu, verurteilt sie nicht, sondern fordert sie zur Umkehr auf und öffnet ihr damit den Weg zurück in die Gemeinschaft. Er setzt darauf, dass Vergebung und Gottvertrauen der Frau helfen, ihre Verstrickung selbst zu lösen.

 

Folgen wir ihm nach, bemühen wir uns, den Menschen zuzuhören und dabei zu helfen, sich zu versöhnen. Dafür wünsche ich uns im neuen Jahr viel Zeit und innere Freiheit!

Christian Bakemeier

Evangelische Geschäftsführung

Bahnhofsmission Deutschland e.V.